menschliche Moral sinkt schnell (Verantwortungsdiffusion)
1974 führte die serbische Performancekünstlerin Marina Abramović in Neapel wohl eine der verstörendsten aber auch interessantesten Performances der Kunstgeschichte durch. „Rhythm 0“ sollte sechs Stunden dauern und war ein Experiment zum Thema „menschliche Moral“.
simple Regeln:
Abramović stellte sich völlig passiv zur Verfügung. Das Publikum konnte mit ihr machen, was es wollte, ohne dass sie Widerstand leisten würde.
Auf einem Tisch lagen 72 Gegenstände bereit:
- harmlose Objekte (Federn, Parfüm, ua.)
- gefährlichen Waffen (geladener Revolver, Messer, Peitsche, ua.)
1. Phase: Zurückhaltung und Respekt
Zunächst verhielten sich die Besucher zurückhaltend und respektvoll. Sie berührten Abramović vorsichtig, bewegten ihre Arme oder legten ihr Blumen in die Hände. Die Atmosphäre war spielerisch, fast schüchtern.
2. Phase: erste Hemmungen fallen
Mit der Zeit wurde das Publikum mutiger und übergriffiger. Die Besucher begannen, Abramović auszuziehen, sie mit Dornen zu stechen und ihr Gesicht mit Lippenstift zu beschmieren. Die anfängliche Ehrfurcht wich einer wachsenden Entmenschlichung.
3. Phase: Folter, Morddrohungen und sexuelle Gewalt
In der finalen Phase, bereits nach gut 5 Stunden, artete das Geschehen in pure Grausamkeit aus. Abramović wurde geschlagen, geschnitten und sexuell belästigt. Jemand richtete den geladenen Revolver auf sie, bis andere Besucher eingriffen.
Ihre Kleidung war zerrissen, ihr Körper blutete, und sie befand sich in akuter Lebensgefahr.
Warum verrohen Menschen so schnell?
Die gängige Erklärung dazu war und ist: Sobald Abramović ihre Passivität erklärte und beibehielt wurde sie in den Augen des Publikums von einem Menschen zu einem Objekt degradiert.
Die bewusste Verweigerung jeder Reaktion führte dazu, dass die Zuschauer ihre Empathie verloren. Kein Feedback, keine Schreie oder Proteste – und schnell verlor sie (in den Augen fast aller Teilnehmenden) ihre Menschlichkeit.
Ein Phänomen, das aus extremen Situationen wie Folter oder Völkermord bekannt ist – die Opfer werden systematisch entmenschlicht oder zu nichtmenschlichen Tieren (FAQ) erklärt, um moralische Hemmungen abzubauen.
Hinzu kam, das sich in der Gruppe das individuelle Verantwortungsgefühl auflöst. Es verschwindet nach und nach. Der sozialpsychologische Effekt der „Verantwortungsdiffusion“ tritt ein: Wenn viele Menschen anwesend sind, fühlt sich der Einzelne weniger persönlich verantwortlich für sein Handeln.
Die Anwesenheit anderer Zuschauer normalisierte zunehmend grausames Verhalten – was zunächst schockierend wirkte, wurde durch Wiederholung immer akzeptabler.
Da Abramović ausdrücklich erklärt hatte, dass sie die volle Verantwortung für alles übernehme, was mit ihr geschehe, befreite die Zuschauer zusätzlich von Skrupeln und gesellschaftlichen Normen. Es entstand ein rechtsfreier Raum, in dem unterdrückte Impulse ausgelebt werden konnten.
Schlimmer noch – Die Anwesenheit anderer erzeugte einen unbewussten Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Tabubrüche. Jede neue Grenzüberschreitung wurde zur Herausforderung für den nächsten Teilnehmer, um noch weiter zu gehen.
Was als harmlose Berührung begann, steigerte sich in einer fatalen Spirale zu lebensbedrohlicher Gewalt. Die Zuschauer befanden sich in einem unausgesprochenen Wettbewerb um die drastischste Handlung. Menschen handeln in Gruppen oft grausamer als allein.
Ende des Experiments
Als die sechs Stunden vorbei waren und Abramović sich wieder bewegte, reagierte das Publikum von sich selbst schockiert. Viele konnten den Menschen, den sie gequält hatten, nicht mehr in die Augen sehen.
Erst als sie ihre Passivität aufgab, wurde sie wieder zum Menschen – doch die Erkenntnis über das menschliche Potenzial zur Grausamkeit blieb. „Rhythm 0“ legte unmissverständlich dar: unter bestimmten Umständen ist jeder Mensch zu extremer Grausamkeit fähig ist.
Die Performance zeigte, wie schnell der Kippunkt der Zivilisation erreicht ist und wie schnell moralische Normen zusammenbrechen können. Die Parallelen zu historischen Gräueltaten sind unübersehbar – von den Stanford-Prison-Experimenten über die Milgram-Studien bis hin zu realen Völkermorden, zeigt sich immer wieder dasselbe Muster:
- Entmenschlichung
- Autoritätshörigkeit
- Gruppendruck
- Auflösung individueller Verantwortung
führen zu unsäglicher Brutalität. Das Experiment beweist auch, wie wichtig aktiver Widerstand und Empathie sind. Nur durch bewusste moralische Reflexion und den Mut zum Widerspruch kann verhindert werden, dass aus einem zivilisierten Menschen ein Monster wird.
Das Publikum wollte mich wirklich zerstören. – Quelle: Marina Abramović
Text: @Infokomposter / Bluesky – Bildquelle: Mohamed Hassan / Pixabay